Hamburg, 11. Februar 1912
Berlin hat sich im Lauf weniger Jahre drei Eisarenen geleistet, mit
allen erdenklichen und überflüssigen Luxus ausgestattet. Bei uns setzt man
jetzt auch gewaltige Erdmassen auf der Langen Reihe in Bewegung, um den
glaskalten Frost einen ebensolchen gedeckten Tempel zu errichten.
Rascher aber als Menschen denken und schaffend erbauen können, machte
Mutter Natur aus ganz Hamburg einen einzigen Eispalast von solch
triumphierender Schönheit, von einer so klirrenden Einheit und packender Größe,
dass alles starr war, am hauptsächlichsten aber die Gliedmaßen, welche
„hervorragend“ der Kälte preisgegeben waren. Gut, dass das Wetter so launenhaft ist wie eine verwöhnte Frau, und
seit kurzem wieder ein weicheres Gemüt zeigt.
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Eisalster |
Die bekannten ältesten Leute, die von ihrer Tage Menge nur dann zu
reden belieben, wenn sie sich in die Toga der Wichtigkeit hüllen können, selbst
diese Spezies vom Stamme Mensch konnte sich nicht erinnern, einen ähnlichen
Frost erlebt zu haben. Sogar der Quecksilbersäule im Thermometerglas wurde es
zu viel des Guten, und sie zog sich immer tiefer in ihre Gemächer zurück,
sodass es schwer hielt, sie aufzusuchen.
Durch die Straßen, auf denen der Schnee knallhart gefroren lag, raste
die unsympathische Frosthexe, spindeldürr, mit schlotternden Kleidern, an der
blauroten Hakennase hing ein kleiner Eistropfen, und mit ihren langen
Krallenfingern zwickte sie stillvergnügt jeden, der ihr in den Weg lief, in die
Ohren, in die Nase, in die großen Zehen, bis sie blau anliefen und weh taten, dass
es nur so eine Art hatte! Knirschend knarrte der gefrorene Schnee unter den
hastenden Schritten der Menschen, die vom Dämon Frost rascher gejagt wurden,
als von der Lust am Gewinn und an der Arbeit, die doch sonst zwei sehr
treibende Faktoren in unserer Stadt sind.
Die kurze Zeit, wo sich Frau Sonne einmal zeigte, genügte, um zu
sehen, dass auch sie anscheinend ganz gewaltig eingeheizt hatte. Der himmlische
Grog war sicher ein zweckentsprechend steifer, denn die würdige Dame sah mit
knallrotem Kopf runter auf den großen Eispalast Hamburg, und legte sich ein
paar Stunden später kühle Wolkenumschläge auf die Stirn. Kenner behaupten, das
käme davon, wenn man zu viel Zucker in den Grog würfe, die unfehlbare Folge
seien Kopfschmerzen.
Die reinste Freude aber verschaffte diese Kälteepoche allen
Wärmeproduzenten. Keine Haustür in Hamburg, vor der nicht die sackbehaupteten
Kohlenträger gänzlich außer der Reihe Ofenfütterung abgeladen haben, kein
Pelzwarenhändler, der nicht seine echtesten Felle und ebensolche Kaninchenmuffe
losgeworden wäre, die Wolle stand weit über pari, und trotz des bösen
Methylschnapses war jeder anders geartete Alkohol in steigender Wertschätzung
begriffen.
In der Elektrischen verschwand völlig die sonst allgemein übliche
Mode, so viel Platz wie möglich für sich zu beanspruchen, und das
Zusammenrücken, soweit es nur tunlichst ist, zu vermeiden. Man quetschte sich
so eng aneinander, wie es sonst nur sehr verliebte Leute, selbst zu heißesten
Sommerzeit, zu tun pflegen, und spürte mit Behagen, die Ansammlung der
animalischen Menschheitswärme, soweit sie vorhanden war. Dazu genoss man eine
gesundheitlich sehr annehmbare turnerische Fußgymnastik. Keine Bahn, in der
nicht über den nassen Bodensprossen sämtliche Füße der Passagiere in rollender,
stampfender Bewegung gewesen wären, kein Wagen, in dem nicht jene unwirtliche
Temperatur geherrscht hätte, wie sie gang und gäbe ist in einer gewissen Sorte
„guter Stuben“, vulgo „Familiengruft“ zubenannt. Dazu wurde noch geliefert,
außer der Kälte und dem altbekannten Genuss, für wenig Geld ganz langsam und
ausgiebig lange seinen Platz besitzen zu können, eine Sonderausstellung
fossiler Pflanzensammlungen.
Im bläulich weißen, kalten Licht standen erstarrte Riesenfarnen,
urweltliche Rispenarten, sonderbar gerissene Palmensorten und Schlinggewächse,
die sich wie gewaltige Saurierleiber um Urwaldstämme ringelten und an ihnen
hinan krochen. Ein abwechslungsreiches Bild, denn jede Bahn hatte ihre
Extrasorten, nur nahmen die Eisgebilde Licht und jede Aussicht, und man fuhr
wie in einem rollenden Eissarg, für die Außenwelt abgeschlossen, ganz gewiss an
der richtigen Haltestelle vorüber. Und das war bitter zu dieser Zeit beißenden
Frostes und nagender Kälte!
Da aber setzte zur rechten Stunde, selig willkommen geheißen, unser
gutes, ehrliches Hamburger Schlackerwetter ein. Die Stelle der Schlittschuhe
nehmen, wie so oft, die Gummischuhe ein. Mich aber zog es hinaus, fort von
Straßenbrei und sottbeschwerter Feuchtigkeit, in den Hafen, um zu sehen, wie
sich dort das gebannte, im Frost gehaltene Wasser in seine Urelemente auflöst.
Und ich kam just zur rechten Zeit.
Überall an Land Schmutz und Morast, über den Wassern aber des Eises
gebrochene Gewalten. Das knirschte und stieg an den Ufermauern empor, dass es
eine Lust war. Es war kurz vor ein Uhr. Mit einem Schwarm hastender Arbeiter
zugleich ging es über die glitschigen, nassen Bretter hinunter auf die grüne
Fähre. Die zog und riss an den Tauenden, als ob sie es nicht erwarten könne,
den frischen Kampf mit den kauernden Eisschollen aufzunehmen. Plötzlich ging es
wie ein elementarer Riss durch die Luft, die Schallwellen trugen ein jähes,
wildes Durcheinander von Pfeiftönen daher. Dumpfes, schweres Tuten ward
zerschnitten von gellendem, hellen Pfiff, dazwischen drängte sich anhaltend das
Heulen der Dampfsirenen. Mittagsruhe ward ausgepfiffen, und die Arbeit reckt
ihre rußige, harte Faust mahnend wieder empor.
Unter mir ein Stampfen und Zittern, die grüne Fähre durfte
hineinhasten ins Kampffeld. Gleich zu Anfang, als sie den dicht vereisten
Vordersteven, wie eine scharfe Lanzenspitze in die Eiswasser drohend,
aufreizend niedersenkte, begann das Vorpostengeplänkel. Wie ein dichter
Kugelregen prasselten zerriebene kleine Eisstücke an den Bordwänden hoch. Aber
sie wurden gleichgültig abgeschüttelt. „Druff“ hieß auch hier des alten
Blüchers historische Kampfregel. Und hinein ging es nun mit Volldampf in die
quirlende, wild aneinander stoßende, gewaltige Maße der stromabwärts treibenden
Eisschollen. Mit eisernem Stoß stürmte der schmächtige Leib des Dampfbootes
gegen sie an. Empört stürzen sie sich auf den schnaubenden Feind,
Zyklopenfäuste schienen die fußdicken Eisklumpen zu heben und gegen den
schneidenden Bug zu schleudern. Ein Krachen und wildes Knirschen, die
drängenden Schollen sind gepackt, durcheinander gewirbelt und mitleidlos
durchschnitten. Neue Massen warfen sich dem Angreifer wild und wuchtig
entgegen. Stücke von einem Durchmesser, wie man sie seit Jahren nicht mehr auf
der Elbe gesehen, von einer Länge, wie eine kleine Motorbarkasse, bäumten sich
reckenhaft in der Fahrrinne auf. Unbeirrt stampfte das Boot darauf los. Sie
sperrten den Weg, drängten gegen die aufdröhnenden Planken, und sprangen mit
wildem Satz hoch auf und schlugen ihre Eisschilder splitternd gegen die fressende
Bugspitze. Ein krachender Ruck, der eiserne Kiel pflügte ihre Rücken und
drückte sie Erbarmungslos tief hinab in die aufzischenden Wassermassen. Die
ganz Starken aber unter ihnen warteten lauernd, bis sie auf ihren Eisrücken das
schneidende Eisen des Bootes spürten und trugen. Dann ein jähes, heimtückisches
Hochstemmen, und das Boot wich in kurzem Ruck aus der Fahrtlinie, und ein
rinnendes Zittern und Aufstöhnen ging durch seine Planken. Dann aber biss es
härter noch als zuvor in die drängende Masse des Feindes, wild warf es
brechende Schollen hoch, wie ein rasender Stier sein Opfer auf die Hörner
nimmt, um es abwärts zu schleudern und zu zerstampfen. Wie ein Steinregen
prasselten Eisstücke über Bord, und Scholle wurde über Scholle gedrückt und
gepresst, und mit wuchtiger Kraft kopfüber ins Wasser getaucht.
Vorbei geht es an den Duckdalben, die von einer starken Eismasse
breit und hoch umschlossen waren. Hier und da hatten Tauwind und die falschen,
artverwandten Wasser schon breite Torbogen in die starrende Eismauer gefressen,
und die Fluten wühlten mit stahlharten Händen den erschlossenen Weg immer
weiter. Die hochgezogenen Anker der großen Überseer waren noch fest in einen
glitzernden Eismantel gehüllt, vertäute Schuten dicht mit erstarrten
Wassermengen bezogen. Selbst hoch an die Kaimauern hinauf kletterte das
tollgewordene Eisheer. Der Westwind aber stellte ihm nach, wo er es packen
konnte, sodass es da und dort in jäher, wilder fluchtartiger Auflösung daher
rann. Mit raschem Bogen legte das grüne Fährboot wieder in der Nähe der St.
Pauli Landungsbrücken an, geduldig ließ es sich das haltende Tau anlegen, und
wartete im brauenden Eiswasser, bis es wieder hinein durfte in den befreienden,
frischen Tageskampf, den es eben noch siegreich bestanden.