05. Februar
1911, Hamburgischer Correspondent
Wer immer – wo und wie es auch sei – mit weit offenen Sinnen
beobachten oder mit fressendem Herzeleid erfahren musste, wie furchtbar die
Leib und Seele zerrüttenden Verwüstungen sind, die unmäßiger Genuss sogenannter
geistiger Getränke bei den Menschen hervorruft, die ihnen verfallen, der hat
nur eine Frage auf dem Herzen: Wo ist die Rettung und wo ist Hilfe?
Trostlos erscheint alles, was mit diesen zukunftslosen Menschen in
Zusammenhang steht; inhaltsleer ihr eigenes Dasein; herb und bitter die
Seelenqualen, die sie peinigen, und der schmerzliche Druck der Erkenntnis ihrer
eigenen Energielosigkeit dem Taumelgift des Alkohols gegenüber. Von Tag zu Tag
beschwert sie mehr die körperliche Schlaffheit, aufgeschwemmte Verdunsenheit
verzerrt die Züge, heimlich beschleicht Krankheit all ihre Wege, bis deren
fieberheiße Hand die Armen packt und nicht mehr lassen will. Fressende
Untätigkeit – der Menschheit furchtbarste Pest – tritt dem Alkoholkranken zur
Seite, Unlust und Rohheit hängen sich an ihn, und alles freie, werkfrohe Leben
wandelt sich ihm zu leerem, blöden Hindämmern. Alle Schrecken der entfesselten
Bestie stürzen vor dem einen dieser Gebundenen her, während andere in stumpfer
Willenlosigkeit dahinleben, unfähig zu jeder Tat, oder zu kurzem, flackerndem
Tun ihrer giftgelähmten Körper aufgeißeln mit immer schärferen Gaben des
ersehnten Alkohols.
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Ausweg |
Gleichgültige Gedankenlosigkeit hat für diese Ärmsten der Armen nur
dreierlei bereit: den landesüblichen und so bequemen sittlichen Abscheu,
lachenden Spott und beißenden Hohn. Die Allgemeinheit ist sich noch nicht
darüber klar geworden, dass sie hier Kranke vor sich hat, die eine böse Seuche
beschlichen und die barmherziger Hilfe, liebevoller, leitender Führung hinauf
zu den sonnenhellen, lichten Wegen der Genesung so unsagbar dringend bedürfen.
Wohl nirgends ist verdammendes Aburteilen, verachtungsschweres Abwenden von
schwach Gewordenen, vom Alkohol Belasteten unangebrachter und verwerflicher wie
gerade bei diesen leicht verstockten oder verschüchterten Kranken, die selbst
in freien Stunden am besten und qualvollsten fühlen, was sie gewesen, wo sie
hin gelangten! Nicht immer ist die Trunkseuche erblicher Fluch, nicht nur
lebenstoller Leichtsinn lässt die nur zu bald zitternde Hand nach dem vollen
Becher tasten, allzu oft sind es herbe Not, bittere Entbehrung, unerträglich
scheinende Untreue eines Menschen, auf dessen Liebe vertraut wurde, die viele
jener unseligen hineinschleudern auf die Bahn des Elends, die sie lehren in
Trotz und übelgezogener Schlussfolgerung den Teufelspakt mit den Geistern des
Alkohols zu unterschreiben, mit ihres Blutes geheimnisdunklen Kräften.
Es gibt eine Internationale, die in allen Ländern gröhlend angestimmt
wird, wo immer Menschen der Kultur und Unkultur hausen, einen Sozialisten, der
unerbittliche Gefolgschaft heischt und dessen Anhängerschaft in allen
Staatswesen eine verderblich große, wild anwachsende ist. Einen Sozialisten,
den schlimmen Gleichmacher, gegen dessen alles Gemeinwesen zerfressende
dämonische Macht die Staatserhaltenden und Gesinnungsstarken unter den Menschen
einen zähen, einen unermüdlichen Kampf zu kämpfen verpflichtet sind um ihrer
heiligsten Güter willen, um die Gesundheit und lebenskräftige Zukunftsstärke
des Volkes: dieser Feind, der am Mark unzähliger zerrt, ist der ungezügelt
genossene Alkohol. Wer einmal in die abgründige Not hinabschauen gemusst, die
ihre schwarzen Fittiche verdunkelnd und atemraubend über die Lebenshütten
zahlloser Familien, langer Reihenfolgen einsamer Einzelner schattenschwer
ausbreitet, den würgt nicht allein des Mitleidens wehe Gewalt, der fühlt nur
eins mit bewussten Sinnen: heilende Hilfe muss gegeben und bereitet werden. Und
fast erstickend packt ihn die Gewissheit, dass trotz so vieler, so werksfroher
Mitleidstaten diese alle doch nur wirken wie der dünne, löschberiete, aber
gegen das wabernde Feuermeer so schwache und machtlose Wasserstrahl.
In segensreicher unbeirrter Arbeit wirkt im deutschen Vaterland der
Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke. Hamburg, das auch auf den
Gebieten werktätiger Nächstenliebe im deutschen Reichsverband einen ersten
Platz einnimmt, die Stadt, in der nicht nur rastlos gearbeitet wird, um Geld zu
machen, sondern die es auch versteht, das sauer Erworbene dem Allgemeinwohl in
großzügiger und wohl durchdachter Weise hinzugeben. In Hamburg bestehen zwei
Trinkerfürsorgestellen, die dem Kuratorium für Trinkerfürsorgestellen
unterstehen: Vom sittlich hohen Gesichtspunkt des Guttemplerordens geleitet die
Trinker-fürsorgestelle 2, die im Rathaus ihren Sitz hat, und die seit dem 16.
August 1909 bestehende Trinkerfürsorgestelle 1, die vom Staat im Gebäude der
Invaliditäts-versicherung, Ringstraße 15, das Zimmer 71 zur Verfügung gestellt
erhielt, wo ihr Leiter Montag und Donnerstag allwöchentlich von 16 Uhr bis
17:30 Uhr eine hamburgische Auskunftstelle für Trinkerfürsorge offen hält und
den Ratsuchenden aller Stände werktätige Hilfe bereitgehalten wird. Die
Trinkerfürsorgestelle 1 wird unterhalten vom Deutschen Verein gegen den
Missbrauch geistiger Getränke, dem Blauen Kreuz und dem Verein für Innere
Mission. Der positive evangelische Glaubensstandpunkt, auf dem auch die
Mitglieder des Blauen Kreuzes stehen, wirft ein bezeichnend klares Licht auf
die Wege der Hilfe und Rettung, die dort ebenfalls in seelischer Beziehung den
belasteten Kranken gegenüber eingeschlagen werden.
Ein selten schöner, frostklarer Tag verging für Hamburg; der Wind
wehte frisch auf und schien auch der sonst so blassen Wintersonne die Backen
rot angehaucht zu haben, denn sie schickte sich an, dunkel erglüht und
verschämt ins abendliche Wolkenbett zusteigen. Der Frost hatte alle
Feuchtigkeit auf den Straßen erstarren gemacht, und die Autos, die in sausender
Fahrt die breite Ringstraße herunter rasten, atmeten nicht nur den üblichen
Benzindunst aus, - sondern wirbelten den trocknen Staub zu einer gelblichen
Wolke hinter sich auf, - dass man ihn widerwillig auf den Lippen verkosten
musste. Überall aber auf den Straßen der hastige, zielbewusste Schritt gesunder
Arbeit.
Es war auch die Auskunftszeit der Trinkerfürsorgestelle 1, und
lehrreiches Erleben wurde mir in dem schlichten., hellen Arbeitsraum, der so
viel Qual, Not und Kummer stumm anhört und in verschwiegene Verwahrung nimmt,
Abgearbeitete, vom Leben und der Erfahrung des Alltags müde gehetzte Frauen
klopften, eine nach der anderen, bei dem Zimmer der Fürsorge an, um Rat zu
suchen, schützende Hilfe zu erbitten. Mit rasch auf das eigentliche Ziel
zugehender Art, getragen von warmer Menschenliebe, die sehr wohl herausgefühlt
wird, verstand es der Leiter der Trinkerfürsorgestelle 1, Herr Amtsrichter Dr.
Rümker, den armen Frauen das abzufragen, was ihrer Seelen Not bedeutete. Mit
seinem Verständnis und klar abwägendem Verstand ward hier eine rasche Brücke
geschlagen, die bald mit scheuem Mut und schüchternem Vertrauen betreten wurde.
Niederdrückend der Jammer, der sich da enthüllte. Ergebene Ruhe aber über all
diese Frauen – klagebar ihre Worte, nur schlichte – erbarmungswürdig harte
Tatsachen nannten sie in einförmigen Ton. Dann ein Verharren in vertrauendem
Schweigen, voll Erwartung, dass ihnen Hilfe kommen müsse von da her, wohin sie
gekommen waren. Und sie wird ihnen, soweit menschliches Können reicht. Ihre
Männer, geschüttelt von den Gewalten des unmäßig genossenen Alkohols, verlieren
das Brot, vertrinken das schwer erworbene Geld der Frauen. Hier vertut im Trunk
in kurzen Jahren ein sonst tüchtiger Arbeiter seine Werkstatt. Die Frau sitzt
mit einer starken, an Kopfzahl starken Kinderschar da, unter denen die
Schwindsucht haust. Dort verleitet der alles Gute erstickende, das Bewusstsein
verschleiernde Alkohol einen braven Mann und Vater zu schwerer
Körperverletzung. Die einsetzende Reue bei eingetretener Nüchternheit führt zur
jachen Verzweiflung - und die Folgeerscheinung ist - weitere Trunkenheit.
Die Mitarbeiter am Werk des Dr. Rümker, die Brüder H. und F. Zeising,
besuchen die Trunkkranken, helfen ihnen, durch Beitritt in einen Abstinenz
Verein, wieder auf die Füße zu kommen. Pastor Lüder sorgt für frisches
Wiederaufrichten, und in unermüdlicher Fürsorge am Werk der Helfenden ist Frau
von Nettelbladt. Die Trinkerfürsorgestelle 1 verschafft außerdem den so schwer
Belasteten Arbeit, segensreiche, durch Beihilfe des Arbeitsnachweises der Patriotischen
Gesellschaft. Die notwendige Hebung der einzelnen Persönlichkeit aber, ihre Erziehung
zur leben bringenden Enthaltsamkeit, ist eine Doppelaufgabe, die zur
körperlichen und seelischen Heilung der Schäden am Organismus, und durch diese
am Geist, gelöst werden muss. Zu diesem Zweck ist eine längere Unterbringung
des Kranken in eine Heilanstalt – mindestens auf ein Jahr – dringend geboten.
Und zwar in eine Heilanstalt, in der die Persönlichkeit als solche behandelt
und begriffen wird, die also nicht allzu groß an Patienten ist, und deren
Lebensordnung möglichst wenig von der Lebensweise der Familie abweicht. Dies
dringend gebotene Heilmittel versucht die Trinkerfürsorgestelle, wo immer sie
kann, anzuwenden.
Nur mangelt auch hier vor allem anderen der nervus rerum – das Geld.
Vierhundert Mark Jahrespension für einen Kranken 3. Klasse wollen aufgebracht
werden. Die Trinkerfürsorgestelle 1, der zur Ordnung des gewaltig
anschwellenden Aktenmaterials ein Beamter der Invalidität zur Verfügung
gestellt wurde, hat seit ihrem Bestehen 463 einschlägige Fälle, vom Arbeiter
bis in die höheren Stände erlebt, und die Genugtuung, vielfach zur bleibenden
Rettung verholfen zu haben.
Niederdrückend wirkt das verheerende, alkoholische Gift in seinen
Folgen beim Mann, dem natürlichen, sogenannten Ernährer der Familie, der unter
dem Druck dieser Erkrankung aber nur zu ihrem Verzehrer wird. Unendlich
schmerzlich aber, geradezu vernichtend, bedrückt die Trunksucht jeden nur
halbwegs Denkgewohnten bei derjenigen, die des Volkes Zukunft in ihrem Schoß
schützend trägt, bei der Frau. Nirgends wohl ist das oft missbrauchte Wort:
unnatürlich besser und bezeichnender am Platze wie hier. Und nirgends sonst
spielen seelische Erlebnisse schwerer, eingreifender mit, wie bei einem armen Weibe,
das sich, wie ein verirrter Vogel verzweifelt dem Alkohol in die Arme wirft.
Auch hier heißt es: heraus aus den gewohnten Verhältnissen der durch Trunksucht
Gebundenen, auch hier ist die Rettung allein, ihnen ein Asyl der Enthaltsamkeit
zu bieten, sie durch Gewöhnung an eine geregelte Hausordnung, an eine gesunde
Arbeitstätigkeit erstarken und genesen zu machen. Selbstredend immer im Verein
mit der Entziehung des Alkoholgenusses. Nur wenig ist für die so erkrankten
Frauen gesorgt. Eines der bestgeleiteten Heime dieser Art ist das
Trinkerinnen-Asyl Siloah, von der St.Anschar-Gemeinde ehemals zu Schwartau bei
Lübeck gegründet, nunmehr aber in der immer stolzer anwachsenden
Anstaltskolonie auf der freien Anscharhöhe Hamburg-Eppendorf untergebracht, in
einem stattlichen, schönen, sonnendurchfluteten Gebäude, dessen Baumittel
hauptsächlich durch einen Bazar flüssig gemacht waren. Für wenig mehr als
dreißig Pfleglinge bietet der Raum, ausgestattet mit allen zweckdienlichen
Einrichtungen der Neuzeit, erwärmt von der nie versagenden Zentralheizung
werktätiger Menschenliebe. Unter der Führung der Frau von Nettelbladt und der
unermüdlich sorgenden Schwester Agnes, der Oberin der Anstalt, sahen wir diese
freundliche Heim- und Schutzstätte vom Erdgeschoss bis zur Dachkammer. Überall
Sonne, fröhliche Arbeit, inniges Zusammenwirken. Und in einem Zimmer – im
weißlackierten Bettlein – ein Kind von wenig mehr als zehn Monaten, das man der
Mutter zu Liebe mit aufnahm. Beredter als dieses Bild konnte keine noch so
gewaltige Predigt wirken!
Das Haus bietet Pfleglingen der ersten, zweiten und dritten Klasse
bequemen Raum, trennende gesellschaftliche Unterschiede verwischt christliche
Liebe. Anregende, musikalische Unterhaltungen, ausgeführt von der rechten Hand
der Schwester Agnes – Frau von Wense – versammeln die Anstaltsgenossinnen
allsonntäglich, und erheben die Notbedrückten zu den reinen Sphären der Kunst.
Allen aber hilft, außer der geübten und erlebten Enthaltsamkeit vom Alkohol,
tüchtige Arbeit den Weg zur Genesung zu finden.
Als wir Abschied nahmen, da kam ein schüchternes Wünschen der
Schwester Agnes zum Ausdruck, die auch für das leibliche Wohl ihrer großen
Kinder besorgt ist: ach, wenn sich doch einer erbarmte, und uns Geld schenken
wollte, dass wir bald einen richtige, festen, warmen Hühnerstall bauen könnten!
Eier sind so teuer, und wir brauchen so viel! Vielleicht hat ein verfrühter
Osterhase ein Einsehen mit den Wünschen der Siloahschwester.
Sonne, flutende Sonne drang wärmend, leben weckend überall in die
lichten Räume des friedvollen Frauenheims, schlichte Nächstenliebe aber hütet
und bewahrt jene, deren Weg wieder werktätiges Leben sein soll und wird.
(Hamburger Staatsarchiv / 741-4_S 12971)