Es gab eine Zeit, als sich abenteuerlustige
Erfinder, Flieger und Kaufleute des alten Menschheitstraumes, zu fliegen, noch
annahmen, ohne dabei Kosten, Nutzen und Risiken gegeneinander abzuwägen. Sie
taten es aus ideellen Motiven. Sie wollten Pioniere sein. Einer dieser
Avantgardisten der neuen Zeit war der Hamburger Kaufmann Richard Pfaffe, der in
Hamburg das erste privatwirtschaftlich tätige Luftfahrtunternehmen der Welt,
die „Hansa-Luftverkehr“, gründete.
Richard Pfaffe charterte für den Sommer 1911 ein Parseval-Luftschiff
für fünf Wochen nach Hamburg. Für dieses Schiff wurde in Hamburg-Ohlsdorf
innerhalb von nur sechs Wochen eine riesige Luftschiffhalle aus Holz errichtet.
Von hier aus startete die Besatzung des Parseval unter Führung von Oberleutnant
August Stelling die für damalige Verhältnisse spektakulären Rundflüge – es
waren die ersten mit einem motorisierten Ballon über dem Hamburger Stadtgebiet!
Nicht nur Senatoren, Militärs und Journalisten durften von der Gondel des
Luftschiffes aus die Stadt aus der Vogelperspektive bestaunen. Auch der normale
Bürger hatte die Gelegenheit, seine Heimatstadt aus dieser völlig neuen Perspektive
zu erleben.
Auch Elimar von Monsterberg berichtete über dieses Ereignis in ihrer Kolumne und bei https://nurfluegel.wordpress.com/2015/07/02/flugellos/ findet man ein Interview zu dem Thema "Parseval in Hamburg".
18. Juni
1911, Hamburgischer Correspondent
Seitdem der Parseval in der Ohlsdorfer Luftschiffhalle
festgemacht hat, ward Tag für Tag die immer brennender werdende Frage aktuell;
steigt er auf, oder geht es wieder nicht. Das große Publikum, dass im allerletzten
Grunde lediglich den Nervenreiz
verkosten will, etwas zu sehen, zu erleben, das für andere gefahrvoll sein
könnte, und gleichzeitig seine immer hungrige Schaulust befriedigen möchte,
dies Publikum begreift von der Luftschifffahrt und ihrer Zukunftsgröße noch
nicht allzu viel.
Vor allem verschließt es sich anscheinend dagegen, dass
der gewissenhafte Luftfahrer sorgsam die atmosphärischen Einflüsse beobachten
muss, ehe er die ihm kostbaren Güter an anvertrautem Leben und Material aufs
Spiel setzt, nur um die sensationslüsternen unter den wartenden Menschen zu
befriedigen. Hamburgs Windströmungen, die ein tatenloses Verharren kaum kennen,
hatten endlich ein Einsehen. Ohne Gefahr konnte das stolze Luftschiff seit
Tagen die Passagierfahrten antreten. Und wie ein Taumel kam es über die
Menschheit, die alte und die zukunftsjunge, als sie den Riesenfisch in
abgeschlossener Ruhe über die Dächer und Türme, die Wasser und Dampfer fliegen
sah. Nur ein kläglicher Rest eingetrockneter und verbohrter Philister
verschloss sich nörgelnd und abweisend der Größe dieses Erlebens.
Denn ein Erleben ist es allemal, mag man den
Luftriesen noch so oft gesehen zu haben. Denn fassbar, augenscheinlich ist hier
ein Sehnen und Sinnen von Jahrhunderten in konkrete Form gekommen, feiert
menschlicher Geist einen seiner stärksten Triumphe. Und die köstliche Kühnheit der
Idee, diese Kristallisation menschlicher Schöpfergedanken, die sich erhebt über
die haltenden Kräfte der Erde, sie ist es, die alle entflammt. Bewusst oder
unbewusst, die Bedeutung dieser Tat reißt mit sich fort. Jeder, der Augen hat
zu sehen und Ohren zu hören, fühlt, dass dies knatternde Sausen der Propeller
hoch in den Lüften eine Pfingsthymne des Geistes der Zukunft ist, wie sie
gewaltiger, packender nicht angestimmt werden kann. Alles Menschensehnen nach
dem Höhenflug nimmt jetzt Gestalt an. Was an Ikaridenhoffen in jedem von uns
noch so versteckt und verstaubt tief verborgen glüht, das flammt als
Stichflamme der Begeisterung hervor beim Anblick des gelben, seidenglänzenden
Riesenleibes des Parseval, der in sicherer Ruhe wolkenwärts steigt, und willig
dem Druck der steuernden Hände seines erprobten Führers folgt.
Der Zufall führte mich am 10. Juni, am Tag des
Stapellaufes des Großlinienschiffes SMS „Friedrich der Große“ hinaus nach der
Fuhlsbütteler Straße zur Luftschiffhalle. Regen und Wind, Wind in böigen
Stößen, wechselten in der Herrschaft miteinander, bis der Wind leider zum
Sieger ward. Die Aussicht auf einen Aufstieg war also von vornherein eine
äußerst geringe. Trotzdem lockte das Luftschiff an sich, und die Lust, wieder
einmal Menschen in Massenanhäufungen unbemerkt zu beobachten. Menschen, die so
verschiedenartig waren wie die Bestandteile eines Ragouts, wenn es auch nicht
überall ein Ragout Fin war. In wohltuend rascher Fahrt brachte uns die
Elektrische durch das sich mächtig dehnende und anwachsende Barmbeck. Dann
hörten die Straßennamen auf, und es hieß hier und dort nur schlankweg: Weg,
Nummer so und soviel. Kornfelder tauchten auf. Die Ähren neigten sich in
eifrigem Gespräch zueinander, und hin und her.
Die Umfassungsmauern des neuen Barmbecker
Krankenhauses dehnten sich schier ohne Aufhören in gewaltiger Flucht vor uns
aus. An der Brambergstraße, eine Haltestelle vor der machtvollen Halle stiegen
wir aus, um alles auf uns wirken zu lassen. Domstimmung war bereits auf der
Straße. Fliegende Buden mit den unvermeidlichen Phonographen. Bier und
Luftschifferkognak wurden ausgerufen.
Selbst ein Karussell lief lärmend im blöden Kreise,
und veranlasste die vorhandene Kinderwelt zu heftigen Bitten, einmal nur da mit
zu dürfen.
Mächtig hob sich vor uns die ungestüm aufwärts
drängende, hölzerne Luftschiffhalle. Abgedämpfter, wie auf der Straße, das
Licht in dem Bretterbau, der wie ein riesenhaftes Erntehaus aussieht. Ein
Erntehaus menschlichen Intellektes in Wahrheit. Ich hatte bisher den Parseval nur
in den Lüften gesehen. Nun wirkte das leise an den haltenden Tauen zerrende
Schiff fast überwältigend groß. Wie ein Tier aus fossilen Zeiten, stoßbereit,
duckte sich der urweltlich große, breite und prall stehende Fischleib unter das
Dach der Halle. Und wie immer, wenn man ein Neues, Großes plötzlich erlebt und
vor Augen hat, kam tiefes Schweigen über mich. Gesammelte Kirchenstimmung, wie
sie uns packt im Dämmerdunkel kühler, jahrhundertealter gotischer Dome.
Himmelanstürmende Meistergedanken kristallisieren ja auch diese Menschenwerke.
Dann erst, langsam ging der tastende Blick erdwärts, zur Gondel. Luftig leicht
und doch stählern fest das Gefüge. Die Plattform mit einem Geländer versehen,
das mit starkem Segeltuch abgesteift ist. Um das Stahlgerippe girlandenförmig
unzählige kleine Glühbirnen gereiht, die bei Nachtfahrten zur Beleuchtung
dienen.
Motor, Kühler, Benzintank und Schmierölbehälter wurden
fast andächtig in Augenschein genommen. Eine Woge Menschen drängte urplötzlich
dicht an die Gondel heran. Ein Herr der Besatzung hat sie zu einem anschaulich
kurzen Vortrag bestiegen.
Seine Ausführungen gewannen plastische Deutlichkeit
durch Handgriffe und Erklärungen an dem Luftschiff selbst. Der Vortrag ist
beendet. Da packt mich einer der Aufseher erregt am Arm, eben kommt das
Militär, ganze sechzig Mann, nun wird’s ernst, er soll in einer halben Stunde
aufsteigen.
Wie ein elektrischer Schlag zuckt das Wort durch die
Menge, die aufgehorcht hatte. Den ersten Aufstieg über Hamburg sollten wir
miterleben! Man wuchs förmlich über sich selbst hinaus, als einem die
Möglichkeit des historischen Momentes klar geworden war. Mit der Naivität des
Laien suchte jeder, Männlein und Weiblein, einen Stuhl in der Halle zu
ergattern, um in gesicherter Ruhe die Dinge, die da kommen sollten, abzuwarten.
Und da der Wind kühl und unvermindert steif auf der offenen Eingangsseite der
Halle liegt, werden in der Liqueurbude, die so wundervoll bequem stationiert
ist, einige Seelenwärmer genehmigt. Die Menschen um uns stauen sich. Auf dem
Dach der Halle misst man die Windstärke. Soldaten, wichtig, erfüllt von der
Schwere der von ihnen erwarteten Taten, werden für ihr Bugsier- und Haltewerk
instruiert. Sie treten an die Haltenden Sandsäcke, und fassen die Taue an.
Sollte es schon losgehen? Da, ein schriller Pfiff, ein Kommandoton, die
strammen Kerls treten wieder ab, und schlendern, die Fäuste in die Hosentaschen
der Uniform des Königlichen Vierten Regiments gebohrt, langsam hinüber über die
Flugwiese nach dem verlockenden Bratwurstglöckl mit dazu gehörender Biermusik.
In der Halle sind währenddessen die Verkäufer der offiziellen Parseval
Postkarte in wütender Tätigkeit. Sie erklären im Brustton der Überzeugung, dass
der Aufstieg baldigst stattfindet, und vertreiben Karten, die mit in die Gondel
genommen würden und während des Fluges zur gefälligen Weiterbeförderung
herabgeworfen werden sollen. Und auch dies Geschäft blüht. Plötzlich ein
Hasten, Drängen, Schieben. Eine Menschenwand baut sich vor dem Parseval auf.
Stühle werden herbeigeschleppt und bestiegen. Aber es ist nichts weiter. Nur
ein rühriger Photograph nimmt die kleine Menschheit auf. Im Hintergrund in
stolzer Ruhe das Werk eines Großen aus diesem Geschlechte. Wieder sind
allmählich Stunden vergangen. Oberleutnant Stelling hofft noch immer, endlich
den Hamburgern zeigen zu können, was der Parseval leisten kann. Abwarten, heißt
die Parole. Vielleicht bringt der Abend mehr Ruhe in die Luft.
Eine Sektbude lockt am Ausgang der Halle.
Sektjungfrauen, die einzelne ihrer Körperformen klug den umfangreichen Maßen
der Sektkühler angepasst haben, schießen Zeusblicke der Vernichtung auf
harmlose Geschlechtsgenossinnen, die sich Müde ihren Stühlen nähern. Und so
bleibt es leer um diese moderne Sorte Kinder der göttlichen Hebe. Auch hier
kein Aufstieg, weder von Pfropfen noch Sektperlen im Spitzglas.
Nun aber scheint es weiß Gott ernst werden zu wollen.
Eine ganze Anzahl Herren der Presse erscheint, von der Leitung des
Hansa-Luftverkehrs telephonisch zum Ausflug herbeordert. Ein großer Gasballon
wird mit Lebensstoff für den Parseval gefüllt. Die wippende Spitzkugel, von
Soldaten bis zu dem hungrigen Riesentier geschleppt, ein Saugschlauch wird ihm
an das Maul gehalten, und er trinkt sich mit Wasserstoffgas satt und voll,
langsam aber auskömmlich. Probeweise werden die Glühbirnen eingeschaltet, die
langen Arme des am Steuer- und Backbord der Gondel hervorragenden
Projektionsapparates, der die Lichtbilder auf die weißen Seitenwände des
Ballons wirft, werden eingestellt. Eine fieberhafte Aufregung beginnt sich der
drängenden Menge zu bemächtigen.
Die Motore fangen probeweise an zu arbeiten. Auf und
nieder sausen die Kolben und fliegenden Zapfen der Maschinerie. Ein surrender
Lärm füllt die Halle. Nun kreisen die vierflügeligen Schwingen der Propeller in
blitzschnellen Schwingungen. Mit knatterndem Sausen schneiden sie durch Luft.
Die Umdrehung wird so rasch, dass man nur schwirrende Kreise vor sich zu sehen
glaubt. Da, ein ohrenzerreißender, langgedehnter Heulton, die Dynamomaschine
gibt laut. Es ist das Signal zu einem Sturm auf die Halle. Selbst die
gefülltesten Biergläser werden achtlos stehen gelassen, das selbst
verknüpfteste Liebespaar stürzt als bewusstlose Einzelwesen in das Gewühl der
Menschheit. Draußen auf dem Landungsplatz wird währenddessen in aller Stille
ein kleiner Drachenballon aufgelassen. Bereits in geringer Höhe zeigt er
starken, allzu starken Winddruck. Es kann nicht geflogen werden. Trotz alledem.
Die Enttäuschung beim Publikum ist groß. Es scheint nicht zu verstehen, dass
diese notwendige Vorsicht die Sicherheit der Parsevalfahrten auf die gleiche
Höhe mit den Fahrten auf der erprobten alten Eisenbahn stellt.
Und die Tage vergingen, endlich kamen die ersehnten
mäßigen Winde. Unerwartet für die vielen hunderten Skeptiker scholl an einem
Spätnachmittag durch die allerstillsten Wege der Hamburger Villenviertel, durch
verkehrsdurchflutete Straßen ein unausgesetztes Hurragejubel. Fenster öffneten
sich, Dachluken flogen auf, Menschen stürzen aus den Häusern und Gärten, in
rasendem Lauf rannten erwachsene, würdeschwere Leute mit Kindern um die Wette
dem Alsterufer zu. Ein leuchtendes Lachen auf allen Gesichtern, stockfremde
Menschen riefen einander zu: „Er fliegt! Er ist
über Hamburg!“
Wie ein Taumel lag es über der Menschheit. Ein Gefühl
stolzer Einheit, starker Zusammengehörigkeit schien über die Massen gekommen zu
sein, wie sie sonst großzügige Stunden nationaler Erhebung zeitigen mögen. Und
in raschem, gleichmäßig stolzem Flug schwebte, losgelöst von der Erde und ihren
beengenden Fesseln, der Parseval. Im Heck Hamburgs Flagge. Im Bogen umkreiste
er die Stadt. Die Abendsonne lag auf seinem seidigen, gelben Riesenleib, wie
Fäden erschien das Gestänge der Gondel. Und die Lüfte trugen ihn willig, und
mürrisch fügte sich ihm der gegenlaufende Wind. Das Steuerruder gehorchte den
führenden Menschen-händen, als ob es tragende Wasser verdrängte. Und mit
überwältigender Wucht packte es all die hunderttausende die ihn sahen, und
erkannten im persönlichen Miterleben, was hier ein stiller Großer aus ihrem
Geschlecht geschaffen, die Macht der Stunde. Ich aber meine, Ulrich von Huttens
Wort hat heute erst Lebensbedeutung erhalten.
„Künste und Wissenschaften blühen! Es ist eine Lust zu
leben!“
(Hamburger Staatsarchiv / 741-4_S 12974)
(Hamburger Staatsarchiv / 741-4_S 12974)