Mittwoch, 23. Oktober 2019

WIE DIE RÜHREIER ENTSTANDEN SIND


Ein Märchen aus längst verschollenen Zeiten


Pfeifend lief der Sturm durch den Tannenwald. Mit seinen kalten Fingern riss und zerrte er im Vorbeirennen an den Ästen und Zweigen, dass die kleinen Bäume sich verängstigt neigten und die großen, die schon so viele Lebenserfahrung hatten, um zu wissen, dass etwas schimpfen alles Unangenehme erleichtert, – quarrten und knarrten, dass es nur so eine Art hatte. Ab und zu hielten sie erstaunt inne – das war, wenn wieder ein neuer Gast bei der Felsgrotte ankam, in der heut die Moosweiblein und Steinzwerge ein großes Fest feierten.
Verstohlen und fast verlöscht vor Neugier, guckte dort ein flackerndes Irrlicht aus dem Busch hervor, das nicht eingeladen war, weil es schon zu oft zur Nachtzeit den einen oder anderen Steinzwerg, der zuviel Birkensaft getrunken, auf Abwege gelockt hatte. Kaum sah des Sturmes Jüngster, der Morgenwind, die arme Flimmerflamme, als er gleich mit vollen Backen auf sie losblies und sie bis ins dunkle, schwippende Moor trieb. Dort aber tauchte sie unter und versteckte sich unter den weißen Totentüchern, die das Moorgespenst just ausbreitete. Vor dem aber fürchtete sich selbst der kecke Morgenwind, schüttelte sich und rannte davon.
         „Kinder, sagt mir doch bloß, was heut eigentlich los ist“, wisperte eine Zwergtanne zu den sie umstehenden mächtigen großen Bäumen herauf. Denn sie liebte es, im Großmutterton mit den Großen zu sprechen.
         „Ja, das weiß der Deibel“, knurrte ein verhutzeltes Wurzelmännchen und biß dazu an seinen Fingernägeln herum. Da bekam es plötzlich von rückwärts her einen herben Klaps auf die Hand, und als er fauchend herumfuhr, stand der Waldgeist hinter ihm, der stets auf Form und Sitte hielt. Mit seiner tiefen Stimme, die wie Waldesrauschen klang, sagte er:
„Erstens nagt man nicht an seinen Fingern wie ein hungriges Mäuslein am dürren Holz, und zweitens lässt ein derartiger Waldmann den Deibel ungerufen!“
         „Wenn du da bist, Allweiser, brauchen wir ihn ja auch nicht“, krächzte das freche Männlein, fuhr aber vorsichtshalber doch in seine tiefste Höhle, kopfüber, und schob noch ängstlich eine dichtverwachsene Wurzeltür hinter sich zu.
Der Waldgeist aber hatte gar nicht mehr auf ihn gehört, denn er sah zwischen den Bäumen mit ängstlichen, großaufgerissenen Äuglein ein Kind daher kommen, einen Korb voll Hühnereiern am Arm, den es krampfhaft festhielt. Dass es von der Menschen Art sei, hatte der Waldgeist gleich gemerkt, denn es stolpert über die Wurzeln, was kein Waldmännlein tut, und die verschüchterte Art, mit der es auf das Gewisper und Geraune im Walde lauschte, das Entsetzen, mit dem es zurückfuhr, wenn mal ein Zweig ihm schmeichelnd die Wange berührte – zeigte dem Alten, dass es ein junges, verirrtes Menschenkind war. Als es vor die Felsgrotte gekommen und die lachenden, gieckenden Alraunen beim Lichte faulender Weidenstümpfe hüpfen und springen sah, da ward ihm himmelangst, und es faltete die kleinen Fingerlein so fest, dass sie rot anliefen, und betete ganz laut:
         „Lieber Gott! Ach schicke mir doch mein Mütterlein her!“
Das rührte den Waldgeist, er zeigte sich dem Kind, bückte sich zu ihm nieder und sagte:
         „Ich will dich zu deinem Mütterlein führen!“
Da vertraute ihm das kleine Ding, und da es ein kleines Mägdlein war und wißbegierig, wie diese Art nun einmal ist, so fragte es rasch getröstet:
         „Was die da machen unter dem nassen Gestein?“
Ehe noch der Waldgeist antworten konnte, kletterte ein kurzgeschürztes Moosweiblein über einen tiefgewachsenen, glibbrigen Ast, der im Schlaf ein wenig quarrte und knarrte, denn er war schon alt und hatte sich in der letzten Gewitternacht erkältet, – und dann ganz atemlos vor dem Waldgeist an. Sie hatte einen harten Kochlöffel in der Hand und klappste damit einen täppischen Nacht-schmetterling auf die Nase, der sie durchaus küssen wollte, denn sie roch, als käme sie geradewegs aus der allerschönsten Märchenküche – und gute Küchendüfte besitzen allemal die größte Anziehungs-kraft für alles Männliche.
„Waldgeist!“ keifte das Moosweiblein, „in eurem Namen hat der Kiebitz draussen an der Moorwiese geschworen, dass er mir heut reichlich Eier beschaffen würde, damit ich meinen Gästen Atzung gewähren kann. Als ich die Eier aber in der Dämmerung noch nicht hatte, fing ich mir einen Sommerfaden ein, fuhr auf ihm der Moorwiese zu, wo ich nur die Kiebitzin fand. Als ich der meine Forderung erklärte, da schrie sie laut vor Lachen, dass es mir noch in den Ohren gellt, und behauptete, sie liefere nur im Frühjahr, wenn ihr Mann mir auch jetzt Eier versprochen hätte, so solle ich sie mir nur von ihm legen lassen, aber sie übernehme keine Verantwortung für das, was bei seinen Versprechungen herauskäme! Vor der Nase ist sie mir fortgeschwirrt, jetzt sitz ich ohne Eier, und eure Pflicht ist es, mir rasch zu helfen, Waldgeist, denn bei eurem Namen schwor ja der freche Kiebitz!“
„Seltsam, Seltsam,“ murmelte der Alte und strich sich seinen langen, weißgrünen Moosbart, „wie ihr Weiblein euch doch immer auszureden und zu helfen wisst!“
Dann machte er sich rasch ganz klein, denn das konnte er, so klein, dass sich das Menschlein gar nicht vor ihm zu fürchten brauchte, nahm ihm sacht den Finger aus dem Mund, an dem es vor lauter erstaunen lutschte, und sagte:
„Schenkst du mir, was du da im Korbe hast? Ich geb dir auch lauter große Tannenzapfen dafür und führ dich dann schnell zum Mütterlein!“
Bereitwillig und vertrauensvoll nickte das Kind dazu und stellte seinen Korb aufs knisternde Moos. Neugierig huschte die Moosfrau hinzu und kreischte:
„Eier! Und was für welche! Zweimal so groß wie ich sie je bekommen! Da sieht man, ich bin zu gut, ich verlange zu wenig! Warte“, sagte sie und sprang einem dicken Stein auf den Rücken,
damit sie in einer Höhe mit dem Kinde war, „ich hole jetzt meinen Kessel heraus, darin will ich die Eier sieden und du hilfst mir dazu Feuer machen!“
Damit wollte das Moosweiblein forthuschen, doch der Waldgeist hielt sie noch rasch am flatternden Schürzenbande fest und sagte:
„Richtiges Flackerfeuer wird mir nicht gemacht! Das wäre sowas für den Junker Morgenwind, der um die Zeit herumfährt und vor lauter Langeweile gefährliche Dinge anstellt. Bring du nur deinen Kessel, ich aber pfeife dem Feuermännlein, da bleibt es gleich unter meiner Aufsicht, sonst klettert es mir heut wieder auf ein Binsendach, draussen bei dem Waldbauern.“
„Ist mir recht“, brummte das Moosweiblein, zerrte sein Schürzenband frei und meinte schnippisch: „um mir das zu verkünden, hättet ihr mir die Schürze nicht aufzubinden brauchen, Wohlweiser!“
Der Waldgeist tat, als verstünde er nicht. Das war auch das Beste so, denn eher kann man Ameisen in ein großlöchriges Sieb sammeln, als mit Weibsleuten fertig werden. Als die Moosfrau ihren großen Kessel herauszerrte, der sich sichtlich dagegen sträubte, weil er gerade dabei war, einen tiefsinnigen Aufsatz über den Wert oder Unwert der völligen Inhaltslosigkeit auszuhecken, kam der Feuergeist im knallroten Röcklein um die entsetzt zusammenfahrende Zwergtanne herumgesaust, dass es nur so dampfte. Er hatte ein sichtlich schlechtes Gewissen. Denn wenn ihn der Waldgeist rief, setzte es allemal etwas für irgend eine seiner jüngsten Schandtaten. Und als er jetzt vor dem Gewichtigen stand und verlegen mit den Fingergelenken knackte, dass die Funken sprühten, überlegte er still für sich, wer wohl über ihn gepetzt haben möchte, und dachte sich aus, wie er sich dann an diesem Jemand köstlich und heimlich rächen wollte. Dabei rieselte es ihm ordentlich wohlig warm den Rücken herunter, denn so ein echtes Rachegefühl macht heiß. Drum war das Feuermännlein fast enttäuscht, dass es sich nur unter den Kessel hocken sollte, und um sich wenigstens etwas zu unterhalten, fing es an, von seinem geschützten Standpunkt aus dem Mägdlein, das ihn gar so verdutzt anglotzte, solch grauliche Fratzen zu schneiden, dass dies zu brüllen begann, grell, ohrenzerreißend, dass der Kobold nun seinerseits ganz verängstigt unter dem Kessel saß. Worauf das Geschrei bald in ein Glucksen und Schluchzen überging und allmählich ganz verstummte. Vorher hatte der Waldgeist noch zwei langen Gabelhölzern befohlen, den Kessel mit gebührendem Respekt zu halten, – denn die Dinger lagen doch nur so im Walde herum und die Langeweile hatte sie schon ganz ausgedörrt. Knarrend und ächzend hielten sie den Kessel und das Feuermännlein machte sich einen Hauptspaß daraus, mal dem einen, mal dem anderen der dürren alten Junggesellen so nahe zu rutschen, dass ihre langschößigen Röcke zu sengen anfingen. Dann schimpften sie mit ihren knistrigen Stimmen, aber es half ihnen nicht viel. Da ward ihnen eine unerwartete Hilfe. Der Kessel, ein dickbauchiger alter Herr, der sich für einen großen Gelehrten hielt, weil er tagtäglich geleert wurde, brummte dem fahrigen Männlein zu, doch endlich seinen Schwerpunkt auf die Erde zu verlegen.
         „Na schön, du erwartungsvolle Weisheitstonne, das sollst du büßen“, zischte das Feuer-männlein, sein Kopf lief ordentlich dunkelrot an vor Wut und es musste den Mund aufsperren, damit es etwas abdampfte. Dann plusterte es sich auf wie eine Henne, die brüten will, und heizte dem armen Kessel derart ein, dass er zu hupfen anfing vor Angst. Unterdessen hatte das Moosweiblein den Eierkorb herangezerrt, und als es ihm trotz allen Pustens und in die kleinen Finger spucken nicht auf den Kesselrand stellen konnte, lachte das Menschenkind hell auf und hob den Korb mit schnellem Ruck über den Kessel, der mit weitaugerissenem Munde zusah. Waldgeister können aber das Auslachen noch viel weniger vertragen als manche Menschen, und so sprang denn auch das Moosweiblein dem lachenden Kind auf den Nacken und fuhr ihm in den blonden Haarschopf, dass es vor Schreck alle Eier auf einmal in den harten Kessel schüttete. Die zersprungenen Schalen aber machten rasch, dass sie wieder aus der tollen Hitze herauskommen, tapsten über den Kesselrand und torkelten ganz benommen ins kühle Moos. Die Eier aber waren gleich an dem brummenden Kessel festgeklebt. Erst zwickte das erboste Moosweiblein das Kind noch derb in die Wange, dass dem war, als stäche es eine Mücke, dann gab sie ihm einen scharfen Blechlöffel und schrie:
         „Rühre die Eier! Immer rühre! Vielleicht wird noch ein Eierkuchen draus!“
Und schnell warf das Weiblein Steinsalz und Eichelfutter hinein und goß frische Hirschkuhmilch dazu. Das Kind aber rührte vor lauter Angst, dass es wie toll schäumte und kratzte dann die Eier mit dem scharfen Löffel so eilig, dass der Kessel ordentlich aufkreischte und ganz lange, feste Brocken aus den zerlaufenen Dingern wurden, und ehe das Moosweiblein noch recht zur Besinnung kam, war zwar kein Eierkuchen, aber eine ganz neue, sehr wohlschmeckende Speise gar geworden. Das Feuer-männlein kroch auch neugierig unter dem Kessel vor, und da es gar so appetitlich roch, trippelten eilfertig die Höhlengeister herbei, erhitzt vom Schwatzen und hungrig vom Tanzen, und jeder holte sein Tellerlein und sein Löffelchen aus dem Ranzen, denn es waren gar selbstherrliche Leutchen, und die Moosfrau und das Kind hatten alle Hände voll zu schaffen, bis jeder Hungrige sehr reichlich und voll gemessen Näpflein aufgeladen hatte, und eine zeitlang hörte man nur ein eifriges Schmatzen und Schlecken (das galt für artig bei den Alraunen, aber es klang ganz abscheulich) – bald aber quiekte das eine oder andere der Wißbegierigen oder sich so anstellende Weiblein:
         „Was für ein fein neu Essen das sei, und wie es sich denn nenne?“
Die Moosfrau ward verlegen, denn sie wusste es ja selbst auch nicht und zuckte deshalb geheimnisvoll mit den Achseln, so dass alle glaubten, sie wolle ihre „Kunst“ nur nicht weiter verraten – wie das ja so oft Sitte sein soll, auch unter den Weiblein von Menschenart. Als aber das fragende Gezischel und das Loben gar nicht aufhören wollte, fuhr das Feuermännlein dazwischen und schrie:
„Rühreier heiß ich den Brei. Bedankt euch bei dem Menschlein dafür, das hat ihn gekocht, nicht die heilige Alte!“
Damit zerrte er das Moosweiblein blitzschnell an ihren wohlgepflegten Haaren, das sie versengten und ein abscheulicher Geruch umging. Von all dem Gezeter und Geschrei wurde dem Kind nun ernstlich Himmelangst, es verlangte nach seinem Mütterlein und den versprochenen Tannenzapfen so laut, dass der Waldgeist ganz erschrocken herangetrippelt kam, den Korb im Umsehen füllte und samt dem schluchzenden Kind unter seinen weiten Nebelmantel nahm. Müde schloß das Kind die Augen und als es sie wieder aufmachte, lag es schon in seinem Bettlein, und dann trat sein Mütterlein in die Tür und hielt sich am Pfosten fest, weil es sonst noch gefallen wäre vor freudigem Schreck, dass es sein Kind wiederfand, denn es hatte schon seit Stunden nach ihm ausgeschaut. Deswegen schalt die Mutter auch nicht sehr, dass all die schönen Eier fort waren, und als das Kind ihr all die wunderlichen Dinge, die es erlebt, erzählte, lächelte sie ganz eigen und strich ihm nur leise über die Stirn, als wollte sie dort etwas fortwischen. Die Tannenzapfen im Korb aber hatten sich, wie es ja auch gar nicht anders zu erwarten war, in goldene verwandelt, noch ehe die Mutter sie eilig verheizen konnte. Die Eierspeise aber, von der ihr Töchterchen erzählt hatte, versuchte sie doch und da sie ihr auch gut schmeckte, kamen die Rühreier unter die Leut – in längst verschollenen Zeiten. 


13. Dezember 1919, Neue Hamburger Zeitung