Sonntag, 13. Dezember 2015

Herbst-Spaziergang


21. Oktober 1911, Hamburgischer Correspondent
(Hamburger Staatsarchiv / 741-4_S 12978)


Es scheint allzu früh in diesem Jahr winterlich kalt werden zu wollen. Das Verlangen nach äußerer und innerlicher Anwärmung wird tageweise schon wieder stärker bei der unvollkommenen Menschheit.
An den Straßenecken, und ganz besonders dort, wo der Neue Wall in den Jungfernstieg einmündet, rennt der Herbstwind herum und rempelt mehr oder weniger jeden an, kippt die großen Hüte der Damen hoch, um mit dreister Aufdringlichkeit darunter sehen zu können, und pfeift sich etwas dazu, wie ein ungezogener Junge.
Hoffnungsleer, mit vergehenden Kräften klammern sich die farbigen, sommermüden Blätter an ihre Äste und Zweige. Mit klammen, ungeschickten Händen wühlt in ihnen der Herbstwind, bis sie lautlos erdenwärts taumeln.
Dann lacht er gell und bläst ihnen zum Reigen auf und wirbelt sie rücksichtslos unter Büsche und auf vergilbte Rasenflächen. Oder er zwingt ihnen den Staub, der auf den Straßen geschlafen hat, als Tänzer auf und hetzt sie in taumelndem Wirbel mit wilden Sätzen in die Wasser der breiten Kanäle. Wie eine goldige, dicht gewebte Decke ruht das Laub eine lange Weile über den nassen Gründen und gleitet erschöpft dahin. Eine Weile nur, bis die Arme der dunkeläugigen Tiefe sie hinunterziehen zur erwartungsvoll schweigenden Stille.
Das Vergehen reitet auf falbem Ross durch die Natur.




Auf den Straßen der alten, sich verjüngenden Stadt aber schafft die neue Zeit und bringt den Luftzug befreienden Werkens überall dahin, wo der Hupenton ihres vorwärts brausenden Autos erklingt, aufrüttelnd, lebenerweckend.
Vom hastenden Getriebe des Hauptbahnhofs her nahm ich meinen Weg hafenwärts. Was für einen Unterschied schuf die Gegenwart in den gedrungenen Tempelhallen des Hauptbahnhofes seit den Tagen des alten Klosterbahnhofes! In wuchtigem Ansturm kommen die D-Züge, der Fernverkehr steigt mit jedem Tag und die Vorortsbahnen können die harrenden Menschenmassen kaum fassen. Wie ein unerschöpflicher Zug des Lebens strömen die Leute, eifrige Diener der Zeit, über die hohen Laufstege, die beiden Bahnsteige und Treppen hinaus in die wachsende schöne Stadt.
Wer vor wenigen Jahren noch die alten, schiefgeneigten Häuser des Schweinemarktes kannte, wer heimkehrt in die Vaterstadt nach langer Zeit und die gedrückte Enge der niedergelegten Straßenzüge dort noch erwartet, der findet sich nicht mehr zurecht in der hier erstandenen, prächtig breiten Mönckebergstraße. Die harten, schaffenden Hände der Arbeit, die oft rücksichtslos zupacken müssen, räumten da unter dem Alten auf mit bedingungslosem Vorwärtsstampfen.

Licht brach herein. Und zwischen so manches Haus, das sich in missverstandener, neuzeitlicher Formgebung aufdringlich breit macht, schieben sich wieder Bauten von eindringlicher Schönheit und wuchtiger Gewalt. Das Beste aber, was dort ersonnen und erbaut wurde, ist das Kunstgewerbehaus von Hulbe. Dort hat man den Ruf verstanden und aufgenommen, den Ruf, der ausging von den nahen Kirchen, kein Verbrechen zu begehen wider den heiligen Geist der Baukunst.
Wohin man sieht, werden die endlos scheinenden Straßenseiten immer noch unterbrochen von nüchternen Bauzäunen. Eiserne Hebewerke fassen rastlos nach neuen Lasten, Mauern steigen empor, Gerüste werden niedergeholt nach vollendeter Dienstzeit. Hier und da, wie zurückgedrängt aus der stolzen Reihe wachsender Häuser, windschiefe, alte Fachwerkbauten. Sie lehnen sich aneinander, als fürchten sie Stütze und Schutz. Die rissigen Mauern, gefärbt von der Tünche hastender Jahre. Geduldig tragen sie die einfachen Reklameschilder  der alten Zeit. Besonders scheinen die Geschäfte der Trödler hier geblüht zu haben. Verwaschene Buchstaben reden davon.
Für alte Kleider, zahle die höchsten Preise, Eingang gleich um die Ecke, wird dicht unter dem Dachfirst des einen Hauses leichtsinnig versichert.
Weiter unten, am Rathausmarkt, ein schwarzes Menschengehaste. Es ist Börsenzeit, die Parade der Kaufmannschaft in vollem Gange. Und sie ist von einer eindringlichen, ernsten Sprache, wenn man bedenkt, was für weltenbewegenden Dinge diese Köpfe da unter dem schlichten Zivilistenhelm anordnen können.

Auf dem engen, allzu gepressten Burstah quellt die Menge wie immer durcheinander. Der Begriff von Raum und Zeit geht hier jedem auf, der vorwärts muss, will und doch behindert wird auf Schritt und Tritt. Über dem Rödingsmarkt liegt eine ungewohnte neue Verdunkelung. Die scharf gezogenen Linien der eisernen Hochbahnbrücke haben das gewohnte Bild vollkommen verändert und umgeschaffen. Hier wirkt die Vorwärtsbewegung der neuen, anderen Zeit, der Hamburg nachfolgt wie alle Großzügigen, so ganz besonders stark und eindringlich. Schade ist nur, dass der edelschöne Bau des Verwaltungsgebäudes vollkommen erstickt wird von der vorgelegten Überführung der Hochbahn. Dem Rödingsmarkt entlang führt mich mein Weg.
Überall tief einschneidende Spuren umwälzender Arbeit. Die Schienen der elektrischen Bahnen werden umgelegt. Unter den teilweise fertiggestellten Hochbahnbogen hocken dicht aneinander gedrängt die hölzernen Bauhütten, Arbeitsgerät ist in starken Stapeln übereinander geschichtet.
Hier und da hat das Eisen der Brücke schon das graue Kleid der Tätigkeit angelegt, noch aber überwiegt das flammende Rot der Farbe, die das Eisengesperr vor fressendem Rost schützen muss. In scheinbarer Totenarmut rastet das Leben auf den pfeilergetragenen Schienen da über der Menschheit. Aber schon legt sich der graue, gewundene Leib in gewaltiger Anspannung über Hamburgs Straßen und Wasser, drängt sich mit wühlenden Kräften hinein in der Erde Dunkelheiten, zu fossiler Größe ausgestreckt, wie die Mitgaardschlange Nordlands sich um die Erde Wandungen schmiegte.
Vom nahen Hafen her heulen die Dampfpfeifen, weht ein frischer Luftzug. Wer noch einen Gran Fassungskraft hat, um dies werdende, aufpeitschende Sturmlied weltumfassender Arbeit herauszuhören aus dem hastenden, gellenden Lauten, die über die ölgetränkten Elbwasser fahren, dem geht das Herz auf, wenn er die Masten der Handelsschiffe, die schweren Leiber der Schuten, und des Hafens ganzes Getriebes vor sich liegen sieht. Von den nahen Vorsetzten schrillt unaufhörlich das knarrende, schütternde Geräusch des Bohrers herüber, der sich in das Eisen der Hochbahnträger wühlt, um Raum für die Nieten zu schaffen. Schauerleute, mit den Fäusten im Taschensack, stehen unschlüssig vor einer Kellerkneipe, die verlockenden Grog anpreist.

Es ist Donnerstag, der dunkle Klageton eines ausfahrenden Amerikadampfers klingt landeinwärts als Scheidegruß. An den St. Pauli Landungsbrücken geht es auf die rasche, grüne Hafenrundfähre. Am Vordersteven sind die Planken wasserberonnen, aber nur dort genießt man die Fahrt auf rechte Weise. Mächtig liegt die Speicherstadt vor mir. Knarrende Kranarme packen ganze Ballen Stückfässer und legen sie fein zuträglich nieder. Lastwagen, mit Pferden davor, die hier fast klein wirken, rollen über die Quaistraße.
Jollen schießen selbstbewusst, wie alle Gernegroße, über die Wasser an den gewaltigen, überseeischen Dampfern vorüber. Ein Schlepper zieht einen schweren, ungefügen Riesen elbabwärts. Hart Backbord hält sich neben ihm ein tanzendes Motorboot, mit dem die aufgejagten Wasser Fangball spielen. Am Amerikahöft liegen, tadellos ausgerichtet, schwere Bremer Warenboote des Norddeutschen Lloyd, im blutroten Schiffsrock, gedrungen und breit, wie unbeholfene, schwer bewegliche, dicke Frauen.
In schwankender Bewegung schlägt der Pegelzeiger vor uns zurück, als wir am Höft dort bei ihm festwerfen. Und dann geht es rasch weiter vorwärts.
Die Wasser schleudern sich mit zischendem Murmeln hoch auf am pflügenden Vordersteven. Schaumkronen tragen sie auf den rastlos bewegten Häuptern und reißen sie ab und rollen sie kichernd einander zu in toller Spiellaune. Der blassen Herbstsonne flirrende Strahlenhände gleiten in streichelndem Liebkosen über die tanzwilden Wasserfrauen. Die aber greifen nach ihnen und ziehen sie mit hinein in den Wirbel und lassen sie nicht, bis sie ihnen hilft mit Zauberfingern einen grüngoldenen Leuchtmantel zu wirken. Voll lachender Lust springen die Wasser jetzt hoch auf bis zur Reeling, mit randvollen Händen werfen sie blitzenden Schaum auf die zurückprallenden Leute und gleiten hastig, geduckt, wieder die Schiffswände hinab in ihr Reich.
Dann aber ein neues, jähes Aufbäumen, ein gewaltiges Anstemmen gegen das anstürmende Dampfboot. Mit stärkerer Kraft ringt es die Wasser nieder. Die aber verrinnen und gleiten wie in liebkosender Freude um die eiserne Bugfaust, die sie niederzwang. Rasche Krafttaten sind allemal etwas Wohlgelittenes beim weiblichen Geschlecht.

Es ist später Nachmittag geworden, als wir bei den Landungsbrücken anlegen. Die Werften drüben auf Steinwärder werden bald zum Arbeitsende pfeifen. Die letzten, hastenden Sonnenlichter gleiten über den alten-neuen Michel, der noch das ungewohnte rotbraune Kupferwams trägt.
Es zieht mich hinüber zum Elbetunnel, diesem Zauberwerk der Jetztzeit und ihrer schöpferischen Kinder. Die Einfahrtshalle ruht wie ein Koloss der Vorzeit vor mir. Den Kupferhelm übergestülpt, geht es von ihr aus wie dröhnende Wucht sieghaften Überwindens. Sie ist schön in ihrer gedrungenen, massigen Form. Vor dem Eingang staut sich die Menge. Zum Weitaus größten Teil wissbegierige, die sich das achte Weltwunder besehen wollen. Fast alles Menschen aus dem Mittelstand  und sogenannte feine Leute. Die oberen Zehntausend scheinen die Einfahrt zu scheuen. Ein schwunghafter Handel mit Ansichtskarten vom Elbetunnel ist in vollster Blüte. Mit nordischem Bedacht und voll wohltuender Ruhe verstauen sich die angesammelten Menschenmassen in den Aufzügen, die später für den Wagenverkehr benutzt werden sollen. Annährend 135 Menschen belasteten den Fahrkorb. Dann rollt die Tür zu sicherem Verschluss abwärts, eine brave Ehefrau hakt sich noch schnell in den starken Arm ihres Mannes ein, um für alle Fälle gesichert zu sein, als wir auch schon niedergleiten. Ich habe noch nie ein so angenehmes Abwärtsfahren erlebt. Man fühlt kaum, dass man die 23,5 Meter in die Tiefe hinabsinkt. Nur wenn man den Blick hebt und das außerordentlich rasche Vorbeigleiten der geschwungenen Eisentreppen, der blitzenden Wandungen beobachtet, ahnt man die Schnelligkeit.
In einer knappen Minute waren wir im aufgewühlten Bett der Mutter Elbe angelangt. Rasch entleerte sich der Fahrkorb. Und nun bot sich dem Neuling ein zauberisches Bild.
In funkelnder Lichtflut lagen die beiden Tunnelstollen vor mir. Wie unterirdische Märchengrotten erschienen sie mir. In den gelben Glasursteinen der Wände fing sich das Licht der elektrischen Lampen und strahlte zurück. Die Lichterschlange schien ganz am Ende sich aufzubäumen und den Ausgang suchend ihren Kopf zu heben.
Über die Fußwege flutete die Menge, wo unter ihnen die Rohrposten jagen und Wasserleitungen lagern. Telephonkabel und Starkstrom sind in die Seitenwände eingelassen, unter dem Fahrdamm zieht sich das Siel. Hundert eilende Menschenschritte hämmern auf den Wegen. Und über unseren Köpfen lastet der grobe Sandboden des Flussbettes, fluten die Wassergewalten, stampfen die Schiffsschrauben. Ein tiefer Schauer der Andacht überkommt mich vor diesem Wunderschaffen menschlichen Geistes, das einzig in der Welt dasteht.
Dann wieder eine kurze Fahrt hinauf  zur Erde. Steinwärder. In Sichtweite von Hamburg liegt es, der Odem Hamburger Arbeit gibt ihm Leben, und doch ist man urplötzlich in dörfliche Straßen versetzt. Nur eine kurze Wanderung über das rote Klinkerpflaster der Norderelbstraße erlaubt mir die drängende Zeit.
Abseits ragt die Werft von Blohm & Voss. Hier und da Schilder mit Anpreisungen, die dem Blumenhändler spanisch vorkommen: Spieren und Raumleitern. Auch viel Schiffsbodenfarben werden angezeigt. Spatzen lärmen wie toll in einer alten Platane, als seien sie allein auf der Welt. Dröhnend, heulend gellen die Dampfpfeifen den Feierabend in die Welt hinaus. Von allen Seiten quellen und fluten Arbeiter mit rußgeschwärzten Gesichtern, aus denen das Weiß des Augapfels blitzt, dem Elbetunnel zu. In den hart gearbeiteten Fäusten die blecherne Kaffeekanne. Und blitzschnell trägt auch mich elektrische Kraft wieder in die Elbtiefen.
Da plötzlich, in der Mitte des Tunnels, dicht hinter mir ein urgewaltiges, hartes Stampfen und Dröhnen, das hallend weiterklingt und anschwillt wie stürmisches Meerestoben, immer stärker, unheimlich, unaufhaltsam, erdrückend fast. Es sind die andrängenden Massen des Arbeiterheeres, das heimwandert.

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen