21. Oktober 1911, Hamburgischer Correspondent
(Hamburger Staatsarchiv / 741-4_S 12978)
Es scheint allzu früh in
diesem Jahr winterlich kalt werden zu wollen. Das Verlangen nach äußerer und
innerlicher Anwärmung wird tageweise schon wieder stärker bei der
unvollkommenen Menschheit.
An den Straßenecken, und
ganz besonders dort, wo der Neue Wall in den Jungfernstieg einmündet, rennt der
Herbstwind herum und rempelt mehr oder weniger jeden an, kippt die großen Hüte
der Damen hoch, um mit dreister Aufdringlichkeit darunter sehen zu können, und
pfeift sich etwas dazu, wie ein ungezogener Junge.
Hoffnungsleer, mit
vergehenden Kräften klammern sich die farbigen, sommermüden Blätter an ihre
Äste und Zweige. Mit klammen, ungeschickten Händen wühlt in ihnen der
Herbstwind, bis sie lautlos erdenwärts taumeln.
Dann lacht er gell und
bläst ihnen zum Reigen auf und wirbelt sie rücksichtslos unter Büsche und auf
vergilbte Rasenflächen. Oder er zwingt ihnen den Staub, der auf den Straßen
geschlafen hat, als Tänzer auf und hetzt sie in taumelndem Wirbel mit wilden
Sätzen in die Wasser der breiten Kanäle. Wie eine goldige, dicht gewebte Decke
ruht das Laub eine lange Weile über den nassen Gründen und gleitet erschöpft
dahin. Eine Weile nur, bis die Arme der dunkeläugigen Tiefe sie hinunterziehen
zur erwartungsvoll schweigenden Stille.
Das Vergehen reitet auf
falbem Ross durch die Natur.
Auf den Straßen der alten,
sich verjüngenden Stadt aber schafft die neue Zeit und bringt den Luftzug
befreienden Werkens überall dahin, wo der Hupenton ihres vorwärts brausenden
Autos erklingt, aufrüttelnd, lebenerweckend.
Vom hastenden Getriebe des
Hauptbahnhofs her nahm ich meinen Weg hafenwärts. Was für einen Unterschied
schuf die Gegenwart in den gedrungenen Tempelhallen des Hauptbahnhofes seit den
Tagen des alten Klosterbahnhofes! In wuchtigem Ansturm kommen die D-Züge, der
Fernverkehr steigt mit jedem Tag und die Vorortsbahnen können die harrenden
Menschenmassen kaum fassen. Wie ein unerschöpflicher Zug des Lebens strömen die
Leute, eifrige Diener der Zeit, über die hohen Laufstege, die beiden Bahnsteige
und Treppen hinaus in die wachsende schöne Stadt.
Wer vor wenigen Jahren noch
die alten, schiefgeneigten Häuser des Schweinemarktes kannte, wer heimkehrt in
die Vaterstadt nach langer Zeit und die gedrückte Enge der niedergelegten
Straßenzüge dort noch erwartet, der findet sich nicht mehr zurecht in der hier
erstandenen, prächtig breiten Mönckebergstraße. Die harten, schaffenden Hände
der Arbeit, die oft rücksichtslos zupacken müssen, räumten da unter dem Alten
auf mit bedingungslosem Vorwärtsstampfen.
Licht brach herein. Und
zwischen so manches Haus, das sich in missverstandener, neuzeitlicher
Formgebung aufdringlich breit macht, schieben sich wieder Bauten von
eindringlicher Schönheit und wuchtiger Gewalt. Das Beste aber, was dort
ersonnen und erbaut wurde, ist das Kunstgewerbehaus von Hulbe. Dort hat man den
Ruf verstanden und aufgenommen, den Ruf, der ausging von den nahen Kirchen,
kein Verbrechen zu begehen wider den heiligen Geist der Baukunst.
Wohin man sieht, werden
die endlos scheinenden Straßenseiten immer noch unterbrochen von nüchternen
Bauzäunen. Eiserne Hebewerke fassen rastlos nach neuen Lasten, Mauern steigen
empor, Gerüste werden niedergeholt nach vollendeter Dienstzeit. Hier und da,
wie zurückgedrängt aus der stolzen Reihe wachsender Häuser, windschiefe, alte
Fachwerkbauten. Sie lehnen sich aneinander, als fürchten sie Stütze und Schutz.
Die rissigen Mauern, gefärbt von der Tünche hastender Jahre. Geduldig tragen
sie die einfachen Reklameschilder der
alten Zeit. Besonders scheinen die Geschäfte der Trödler hier geblüht zu haben.
Verwaschene Buchstaben reden davon.
Für alte Kleider, zahle
die höchsten Preise, Eingang gleich um die Ecke, wird dicht unter dem Dachfirst
des einen Hauses leichtsinnig versichert.
Weiter unten, am
Rathausmarkt, ein schwarzes Menschengehaste. Es ist Börsenzeit, die Parade der
Kaufmannschaft in vollem Gange. Und sie ist von einer eindringlichen, ernsten
Sprache, wenn man bedenkt, was für weltenbewegenden Dinge diese Köpfe da unter
dem schlichten Zivilistenhelm anordnen können.
Auf dem engen, allzu
gepressten Burstah quellt die Menge wie immer durcheinander. Der Begriff von
Raum und Zeit geht hier jedem auf, der vorwärts muss, will und doch behindert
wird auf Schritt und Tritt. Über dem Rödingsmarkt liegt eine ungewohnte neue
Verdunkelung. Die scharf gezogenen Linien der eisernen Hochbahnbrücke haben das
gewohnte Bild vollkommen verändert und umgeschaffen. Hier wirkt die
Vorwärtsbewegung der neuen, anderen Zeit, der Hamburg nachfolgt wie alle
Großzügigen, so ganz besonders stark und eindringlich. Schade ist nur, dass der
edelschöne Bau des Verwaltungsgebäudes vollkommen erstickt wird von der
vorgelegten Überführung der Hochbahn. Dem Rödingsmarkt entlang führt mich mein
Weg.
Überall tief
einschneidende Spuren umwälzender Arbeit. Die Schienen der elektrischen Bahnen
werden umgelegt. Unter den teilweise fertiggestellten Hochbahnbogen hocken
dicht aneinander gedrängt die hölzernen Bauhütten, Arbeitsgerät ist in starken
Stapeln übereinander geschichtet.
Hier und da hat das Eisen
der Brücke schon das graue Kleid der Tätigkeit angelegt, noch aber überwiegt
das flammende Rot der Farbe, die das Eisengesperr vor fressendem Rost schützen
muss. In scheinbarer Totenarmut rastet das Leben auf den pfeilergetragenen
Schienen da über der Menschheit. Aber schon legt sich der graue, gewundene Leib
in gewaltiger Anspannung über Hamburgs Straßen und Wasser, drängt sich mit
wühlenden Kräften hinein in der Erde Dunkelheiten, zu fossiler Größe
ausgestreckt, wie die Mitgaardschlange Nordlands sich um die Erde Wandungen
schmiegte.
Vom nahen Hafen her heulen
die Dampfpfeifen, weht ein frischer Luftzug. Wer noch einen Gran Fassungskraft
hat, um dies werdende, aufpeitschende Sturmlied weltumfassender Arbeit
herauszuhören aus dem hastenden, gellenden Lauten, die über die ölgetränkten
Elbwasser fahren, dem geht das Herz auf, wenn er die Masten der Handelsschiffe,
die schweren Leiber der Schuten, und des Hafens ganzes Getriebes vor sich
liegen sieht. Von den nahen Vorsetzten schrillt unaufhörlich das knarrende,
schütternde Geräusch des Bohrers herüber, der sich in das Eisen der Hochbahnträger
wühlt, um Raum für die Nieten zu schaffen. Schauerleute, mit den Fäusten im
Taschensack, stehen unschlüssig vor einer Kellerkneipe, die verlockenden Grog
anpreist.
Es ist Donnerstag, der
dunkle Klageton eines ausfahrenden Amerikadampfers klingt landeinwärts als
Scheidegruß. An den St. Pauli Landungsbrücken geht es auf die rasche, grüne
Hafenrundfähre. Am Vordersteven sind die Planken wasserberonnen, aber nur dort
genießt man die Fahrt auf rechte Weise. Mächtig liegt die Speicherstadt vor
mir. Knarrende Kranarme packen ganze Ballen Stückfässer und legen sie fein
zuträglich nieder. Lastwagen, mit Pferden davor, die hier fast klein wirken,
rollen über die Quaistraße.
Jollen schießen
selbstbewusst, wie alle Gernegroße, über die Wasser an den gewaltigen,
überseeischen Dampfern vorüber. Ein Schlepper zieht einen schweren, ungefügen
Riesen elbabwärts. Hart Backbord hält sich neben ihm ein tanzendes Motorboot,
mit dem die aufgejagten Wasser Fangball spielen. Am Amerikahöft liegen,
tadellos ausgerichtet, schwere Bremer Warenboote des Norddeutschen Lloyd, im
blutroten Schiffsrock, gedrungen und breit, wie unbeholfene, schwer bewegliche,
dicke Frauen.
In schwankender Bewegung
schlägt der Pegelzeiger vor uns zurück, als wir am Höft dort bei ihm
festwerfen. Und dann geht es rasch weiter vorwärts.
Die Wasser schleudern sich
mit zischendem Murmeln hoch auf am pflügenden Vordersteven. Schaumkronen tragen
sie auf den rastlos bewegten Häuptern und reißen sie ab und rollen sie kichernd
einander zu in toller Spiellaune. Der blassen Herbstsonne flirrende
Strahlenhände gleiten in streichelndem Liebkosen über die tanzwilden
Wasserfrauen. Die aber greifen nach ihnen und ziehen sie mit hinein in den
Wirbel und lassen sie nicht, bis sie ihnen hilft mit Zauberfingern einen grüngoldenen
Leuchtmantel zu wirken. Voll lachender Lust springen die Wasser jetzt hoch auf
bis zur Reeling, mit randvollen Händen werfen sie blitzenden Schaum auf die
zurückprallenden Leute und gleiten hastig, geduckt, wieder die Schiffswände
hinab in ihr Reich.
Dann aber ein neues, jähes
Aufbäumen, ein gewaltiges Anstemmen gegen das anstürmende Dampfboot. Mit
stärkerer Kraft ringt es die Wasser nieder. Die aber verrinnen und gleiten wie
in liebkosender Freude um die eiserne Bugfaust, die sie niederzwang. Rasche
Krafttaten sind allemal etwas Wohlgelittenes beim weiblichen Geschlecht.
Es ist später Nachmittag
geworden, als wir bei den Landungsbrücken anlegen. Die Werften drüben auf
Steinwärder werden bald zum Arbeitsende pfeifen. Die letzten, hastenden Sonnenlichter
gleiten über den alten-neuen Michel, der noch das ungewohnte rotbraune
Kupferwams trägt.
Es zieht mich hinüber zum
Elbetunnel, diesem Zauberwerk der Jetztzeit und ihrer schöpferischen Kinder.
Die Einfahrtshalle ruht wie ein Koloss der Vorzeit vor mir. Den Kupferhelm
übergestülpt, geht es von ihr aus wie dröhnende Wucht sieghaften Überwindens.
Sie ist schön in ihrer gedrungenen, massigen Form. Vor dem Eingang staut sich
die Menge. Zum Weitaus größten Teil wissbegierige, die sich das achte Weltwunder
besehen wollen. Fast alles Menschen aus dem Mittelstand und sogenannte feine Leute. Die oberen
Zehntausend scheinen die Einfahrt zu scheuen. Ein schwunghafter Handel mit
Ansichtskarten vom Elbetunnel ist in vollster Blüte. Mit nordischem Bedacht und
voll wohltuender Ruhe verstauen sich die angesammelten Menschenmassen in den
Aufzügen, die später für den Wagenverkehr benutzt werden sollen. Annährend 135
Menschen belasteten den Fahrkorb. Dann rollt die Tür zu sicherem Verschluss
abwärts, eine brave Ehefrau hakt sich noch schnell in den starken Arm ihres
Mannes ein, um für alle Fälle gesichert zu sein, als wir auch schon
niedergleiten. Ich habe noch nie ein so angenehmes Abwärtsfahren erlebt. Man
fühlt kaum, dass man die 23,5 Meter in die Tiefe hinabsinkt. Nur wenn man den
Blick hebt und das außerordentlich rasche Vorbeigleiten der geschwungenen
Eisentreppen, der blitzenden Wandungen beobachtet, ahnt man die Schnelligkeit.
In einer knappen Minute
waren wir im aufgewühlten Bett der Mutter Elbe angelangt. Rasch entleerte sich
der Fahrkorb. Und nun bot sich dem Neuling ein zauberisches Bild.
In funkelnder Lichtflut
lagen die beiden Tunnelstollen vor mir. Wie unterirdische Märchengrotten
erschienen sie mir. In den gelben Glasursteinen der Wände fing sich das Licht
der elektrischen Lampen und strahlte zurück. Die Lichterschlange schien ganz am
Ende sich aufzubäumen und den Ausgang suchend ihren Kopf zu heben.
Über die Fußwege flutete
die Menge, wo unter ihnen die Rohrposten jagen und Wasserleitungen lagern.
Telephonkabel und Starkstrom sind in die Seitenwände eingelassen, unter dem
Fahrdamm zieht sich das Siel. Hundert eilende Menschenschritte hämmern auf den
Wegen. Und über unseren Köpfen lastet der grobe Sandboden des Flussbettes,
fluten die Wassergewalten, stampfen die Schiffsschrauben. Ein tiefer Schauer
der Andacht überkommt mich vor diesem Wunderschaffen menschlichen Geistes, das
einzig in der Welt dasteht.
Dann wieder eine kurze
Fahrt hinauf zur Erde. Steinwärder. In
Sichtweite von Hamburg liegt es, der Odem Hamburger Arbeit gibt ihm Leben, und
doch ist man urplötzlich in dörfliche Straßen versetzt. Nur eine kurze
Wanderung über das rote Klinkerpflaster der Norderelbstraße erlaubt mir die
drängende Zeit.
Abseits ragt die Werft von
Blohm & Voss. Hier und da Schilder mit Anpreisungen, die dem Blumenhändler
spanisch vorkommen: Spieren und Raumleitern. Auch viel Schiffsbodenfarben
werden angezeigt. Spatzen lärmen wie toll in einer alten Platane, als seien sie
allein auf der Welt. Dröhnend, heulend gellen die Dampfpfeifen den Feierabend
in die Welt hinaus. Von allen Seiten quellen und fluten Arbeiter mit
rußgeschwärzten Gesichtern, aus denen das Weiß des Augapfels blitzt, dem
Elbetunnel zu. In den hart gearbeiteten Fäusten die blecherne Kaffeekanne. Und
blitzschnell trägt auch mich elektrische Kraft wieder in die Elbtiefen.
Da plötzlich, in der Mitte
des Tunnels, dicht hinter mir ein urgewaltiges, hartes Stampfen und Dröhnen,
das hallend weiterklingt und anschwillt wie stürmisches Meerestoben, immer
stärker, unheimlich, unaufhaltsam, erdrückend fast. Es sind die andrängenden
Massen des Arbeiterheeres, das heimwandert.
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