Bezugnehmend auf den Totensonntag vom 19. November 1911 erschien dieser Text im Hamburgischen Correspondenten.
Hamburg, 26. November 1911
Wo wir auch Umschau halten mögen auf dem Erdball, sei es selbst bei
den geringsten Lebewesen, den für uns unscheinbarsten aller Dinge, finden wir
immer und immer einen bestimmten, scharf umrissenen Zweck. Nichts gibt es, das
zwecklos wäre, denn es ginge wider die Natur. Der Mensch selbst also ist der
lebende Beweis für das künftige, veränderte Fortleben seiner Seele und
Geisteskräfte. Des Fleisches Endzweck ist: völliger Tod; denn das Alter lässt
es zusammensinken, über jenes hinaus gibt es für den Körper hinaus keine
Entwicklung mehr. Das andere aber, was in den Menschen gelegt wurde, die
Fähigkeiten seines Geistes und seiner Seele, was in ihm ruht, arbeitet und
ringt, was sich betätigt in selbständigem, ja selbstschöpferischem Handeln und
Schaffen, um dies alles zu vollkommener Reife und Vollendung kommen zu lassen,
reicht solch kurzes Erdenleben in keiner Weise aus. Somit wären alle diese
Kräfte der Zwecklosigkeit unterworfen, welche die Schöpfung nicht kennt, wenn
der Tod des Körpers uns nicht zu einem anderen Leben verhelfen würde. Und so
gewiss der Zweck aller in uns gelegten Geisteskräfte, der uns in kleinem oder
großem Maße gegebenen Anlagen immer nur der ist und sein kann: sich zu
vollkommener Vollendung zu entwickeln, ebenso gewiss können wir diese nur
erreichen in einem anderen, gänzlich anderen Leben.
Unsere geistige Persönlichkeit und unsere Seele, sie leben fort,
müssen fortleben, um den von der Natur gewollten Zweck zu erfüllen. Der Natur,
die nichts halb zu tun pflegt und deren Zielpunkt von Anbeginn her das
Vollbringen ist. Die Art jenes anderen Lebens freilich vermögen wir nur zu
ahnen in jenen lichten Augenblicken, die jedem einmal kommen unter uns. Jedem.
Stak, überwältigend oder ganz matt, unsicher, verwischt. Immer aber macht sich
dabei ein starkes Widerstreben bemerkbar, ein stoffliches, das Widerstreben des
Körpers, der unwillkürlich auch hier nur seinem irdischen Endziel zuneigt, und
über den Geist, der berufen ist, Welten zu durchmessen, Beschränkung, Erdenschwere
auftürmt.
Aber es kommt die Zeit, wo die irdische Hülle unseres Geistes
zerfällt und ihm eine gegeben wird, die aus den Ewigkeiten herauswuchs.
Doch wie unser Körper im Erdenleben unsere Geisteskraft einengt für
seine Zwecke, unsere Seele niederzerrt zu seiner Schwachheit, wird er sie, wenn
der Tod ihn traf, in den Dunstkreis des Erdballs zwingen, bis er endlich
aufging, ganz, in dem, woraus er stammte. Und das muss sie sein, die
erschütternde Qual, das wortlose Leid, das sie alsdann verkostet, die vom Leib
erlöste und doch noch von ihm gehaltene Seele. Allein, grenzenlos allein, nur
umgeben von der Not und Pein plötzlicher Erkenntnis und dem erschütternd
qualvollen Bewusstsein zu unrecht getaner Taten, leichtfertig gesetzter und
nicht erreichter Ziele, im Weltall allein, im Unermesslichen!
Umhegt und umringt von überwältigender Lieblosigkeit, gehetzt von
ruheloser Sehnsucht, der Sehnsucht, nur einmal ein heißes, betendes Erinnern
ihrer hinterlassenen Lieben zu verspüren. Und solch Erinnern, wie schwach es
wird, und wie vergänglich es ist, und wie vergeblich so oft diese
Seelensehnsucht danach! Unendliche Leiden müssen es sein, die Tote leiden, wenn
niemand an sie und ihre Seelen denkt! Und zu der einen Sehnsucht die andere,
unaussprechlich machtvolle, die Sehnsucht, durchzudringen durch die heiligen
Zeit- und Urmächte, angezogen und doch noch unendlich abseits von dem alles
durchströmenden Urvater, und voll haftender sorgenvoller Unruhe, weil sie Ihn
fühlt und ahnt und spürt, und doch noch ewige Gewalten zwischen ihr und ihrem
sengenden Verlangen unsichtbar und doch so grausam deutlich aufgetürmt liegen!
Wovon unserer Väter Väter in dumpfem Vorgefühl raunten, das Volk voll
ängstlicher Ahnung erzählt und flüstert in ungezählten Mären und Sagen: von den
Seelen, die noch keine Ruhe fanden, wahrlich, dies muss es sein, ein Fegefeuer
erwartungsvoller Sehnsucht, peinvoller Ungewissheit und jagender Unruhe, wie es
verzehrender nicht ausgesonnen werden kann.
Unnennbar köstlich aber wird es sein, wenn die Zeit erfüllt ist und
die Pforten der Vollendung sich dem öffnen, was wir für die Ewigkeit
bereithalten sollen! Sie aber, die Hingegangenen, ist es, die von da an den
Unendlichen sehen wird in seiner Glorie zur Rechten Urvaters das Weltall
erfüllen.
Weit und ungebunden wurde nun ihr Verstehen, göttliches Ausruhen
erwartet die Seele, die eingelassen ward in die unbegrenzte, jede Möglichkeit
erschöpfende Wahrheit des Universums. Immer umfassender, immer ausfüllender
durchströmt und erfüllt sie der Geist alles Lebens, unsagbare Wonne und
unausdenkbare, ruhevolle Befriedigung durchflutet sie unausgesetzt durch sein
gebendes Dasein.
Ihrer ist, was wir das „Nichts“, Himmel, Seligkeit, Erlösung nennen,
in der Erkenntnis, dem Durchdrungen Sein und dem Aufgehen in Gott, dem Licht.
(Hamburger Staatsarchiv / 741-4_S 12979)
(Hamburger Staatsarchiv / 741-4_S 12979)
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